INTERNATIONALE ARBEITSORGANISATION

Übereinkommen 156

Übereinkommen über die Chancengleichheit und die Gleichbehandlung männlicher und weiblicher Arbeitnehmer: Arbeitnehmer mit Familienpflichten, 1981

Dieses Übereinkommen ist am 11. August 1983 in Kraft getreten.
Ort:Genf 
Tagung:67 

Die Allgemeine Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation,

die vom Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes nach Genf einberufen wurde und am 3. Juni 1981 zu ihrer siebenundsechzigsten Tagung zusammengetreten ist,

verweist auf die Erklärung von Philadelphia über die Ziele und Zwecke der Internationalen Arbeitsorganisation, in der anerkannt wird, daß „alle Menschen, ungeachtet ihrer Rasse, ihres Glaubens und ihres Geschlechts, ... das Recht" haben, „materiellen Wohlstand und geistige Entwicklung in Freiheit und Würde, in wirtschaftlicher Sicherheit und unter gleich günstigen Bedingungen zu erstreben";

verweist auf die Erklärung über die Chancengleichheit und die Gleichbehandlung der berufstätigen Frauen und die Entschließung über einen Aktionsplan zur Förderung der Chancengleichheit und Gleichbehandlung der berufstätigen Frauen, die die Internationale Arbeitskonferenz 1975 angenommen hat;

verweist auf die Bestimmungen internationaler Arbeits-Übereinkommen und -Empfehlungen zur Gewährleistung der Chancengleichheit und Gleichbehandlung männlicher und weiblicher Arbeitnehmer, insbesondere des Übereinkommens und der Empfehlung über die Gleichheit des Entgelts, 1951, des Übereinkommens und der Empfehlung über die Diskriminierung (Beschäftigung und Beruf), 1958, und des Teils VIII der Empfehlung betreffend die Erschließung des Arbeitskräftepotentials, 1975;

erinnert daran, daß sich das Übereinkommen über die Diskriminierung (Beschäftigung und Beruf), 1958, nicht ausdrücklich mit Unterscheidungen auf Grund von Familienpflichten befaßt, und ist der Ansicht, daß diesbezüglich ergänzende Normen erforderlich sind;

verweist auf die Bestimmungen der Empfehlung betreffend die Beschäftigung von Frauen mit Familienpflichten, 1965, und auf die seit ihrer Annahme eingetretenen Veränderungen;

stellt fest, daß Urkunden über die Chancengleichheit und die Gleichbehandlung von Männern und Frauen auch von den Vereinten Nationen und von anderen Sonderorganisationen angenommen worden sind, und verweist insbesondere auf den vierzehnten Absatz der Präambel der Konvention der Vereinten Nationen über die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, 1979, wonach sich die Vertragsstaaten bewußt sind, „daß sich die traditionellen Rollen von Mann und Frau in der Gesellschaft und in der Familie wandeln müssen, wenn es zur vollen Gleichberechtigung von Mann und Frau kommen soll";

erkennt an, daß die Probleme der Arbeitnehmer mit Familienpflichten Teil eines größeren, die Familie und die Gesellschaft betreffenden Fragenkomplexes sind, dem die innerstaatliche Politik Rechnung tragen sollte;

erkennt die Notwendigkeit an, die tatsächliche Chancengleichheit und Gleichbehandlung männlicher und weiblicher Arbeitnehmer mit Familienpflichten sowie dieser Arbeitnehmer und der übrigen Arbeitnehmer herzustellen;

ist der Ansicht, daß viele der Probleme, die sich allen Arbeitnehmern stellen, die Arbeitnehmer mit Familienpflichten besonders hart treffen, und erkennt die Notwendigkeit an, ihre Lage sowohl durch Maßnahmen, die auf ihre speziellen Bedürfnisse zugeschnitten sind, als auch durch Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Arbeitnehmer im allgemeinen zu verbessern;

hat beschlossen, verschiedene Anträge anzunehmen betreffend Chancengleichheit und Gleichbehandlung männlicher und weiblicher Arbeitnehmer: Arbeitnehmer mit Familienpflichten, eine Frage, die den fünften Gegenstand ihrer Tagesordnung bildet, und

dabei bestimmt, daß diese Anträge die Form eines internationalen Übereinkommens erhalten sollen.

Die Konferenz nimmt heute, am 23. Juni 1981, das folgende Übereinkommen an, das als Übereinkommen über Arbeitnehmer mit Familienpflichten, 1981, bezeichnet wird.



Artikel 1

1. Dieses Übereinkommen gilt für männliche und weibliche Arbeitnehmer mit Pflichten gegenüber ihren unterhaltsberechtigten Kindern, soweit ihre Möglichkeiten, sich auf das Erwerbsleben vorzubereiten, in das Erwerbsleben einzutreten, am Erwerbsleben teilzunehmen oder Fortschritte im Erwerbsleben zu erzielen, durch diese Pflichten eingeschränkt werden.

2. Die Bestimmungen dieses Übereinkommens sind auch auf männliche und weibliche Arbeitnehmer mit Pflichten gegenüber anderen unmittelbaren Familienangehörigen anzuwenden, die offensichtlich ihrer Betreuung oder ihrer Unterstützung bedürfen, soweit ihre Möglichkeiten, sich auf das Erwerbsleben vorzubereiten, in das Erwerbsleben einzutreten, am Erwerbsleben teilzunehmen oder Fortschritte im Erwerbsleben zu erzielen, durch diese Pflichten eingeschränkt werden.

3. Im Sinne dieses Übereinkommens haben die Ausdrücke „unterhaltsberechtigtes Kind" und „anderer unmittelbarer Familienangehöriger, der offensichtlich der Betreuung oder der Unterstützung bedarf" die Bedeutung, die in jedem Land durch eines der in Artikel 9 dieses Übereinkommens erwähnten Mittel festgelegt ist.

4. Die in den Absätzen 1 und 2 dieses Artikels erwähnten Arbeitnehmer werden im folgenden „Arbeitnehmer mit Familienpflichten" genannt.



Artikel 2

Dieses Übereinkommen gilt für alle Wirtschaftszweige und für alle Arbeitnehmergruppen.



Artikel 3

1. Im Hinblick auf die Schaffung der tatsächlichen Chancengleichheit und Gleichbehandlung männlicher und weiblicher Arbeitnehmer hat es jedes Mitglied zu einem Ziel der innerstaatlichen Politik zu machen, daß Personen mit Familienpflichten, die erwerbstätig sind oder erwerbstätig werden wollen, in die Lage versetzt werden, ihr Recht hierzu auszuüben, ohne sich einer Diskriminierung auszusetzen und, soweit dies möglich ist, ohne daß es dadurch zu einem Konflikt zwischen ihren Berufs- und ihren Familienpflichten kommt.

2. Im Sinne von Absatz 1 dieses Artikels bedeutet der Ausdruck „Diskriminierung" die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf, wie sie in den Artikeln 1 und 5 des Übereinkommens über die Diskriminierung (Beschäftigung und Beruf), 1958, definiert wird.



Artikel 4

Im Hinblick auf die Schaffung der tatsächlichen Chancengleichheit und Gleichbehandlung männlicher und weiblicher Arbeitnehmer sind alle mit den innerstaatlichen Verhältnissen und Möglichkeiten im Einklang stehenden Maßnahmen zu treffen, um

a) Arbeitnehmern mit Familienpflichten die Ausübung ihres Rechts auf freie Wahl der Beschäftigung zu ermöglichen und

b) bei den Beschäftigungsbedingungen und bei der Sozialen Sicherheit ihren Bedürfnissen Rechnung zu tragen.



Artikel 5

Es sind ferner alle mit den innerstaatlichen Verhältnissen und Möglichkeiten im Einklang stehenden Maßnahmen zu treffen, um

a) den Bedürfnissen der Arbeitnehmer mit Familienpflichten bei der örtlichen und regionalen Planung Rechnung zu tragen und

b) öffentliche oder private Gemeinschaftsdienste zu entwickeln oder zu fördern, wie Dienste und Einrichtungen zur Betreuung der Kinder und zur Familienhilfe.



Artikel 6

Die zuständigen Stellen und Organe in jedem Land haben geeignete Maßnahmen zu treffen, um eine Information und Bildungsarbeit zu fördern, durch die in der Öffentlichkeit größeres Verständnis für den Grundsatz der Chancengleichheit und Gleichbehandlung männlicher und weiblicher Arbeitnehmer und für die Probleme der Arbeitnehmer mit Familienpflichten geweckt und ein der Bewältigung dieser Probleme förderliches Meinungsklima geschaffen wird.



Artikel 7

Es sind alle mit den innerstaatlichen Verhältnissen und Möglichkeiten im Einklang stehenden Maßnahmen, einschließlich Maßnahmen im Bereich der Berufsberatung und der Berufsbildung, zu treffen, um es Arbeitnehmern mit Familienpflichten zu ermöglichen, erwerbstätig zu werden und zu bleiben sowie nach einer durch diese Pflichten bedingten Unterbrechung wieder in das Erwerbsleben einzutreten.



Artikel 8

Familienpflichten als solche dürfen kein triftiger Grund für die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses sein.



Artikel 9

Die Bestimmungen dieses Übereinkommens können durch die Gesetzgebung, durch Gesamtarbeitsverträge, betriebliche Regelungen, Schiedssprüche, gerichtliche Entscheidungen oder durch eine Verbindung dieser verschiedenen Mittel oder auf eine andere den innerstaatlichen Gepflogenheiten entsprechende Art und Weise durchgeführt werden, die unter Berücksichtigung der innerstaatlichen Verhältnisse geeignet erscheint.



Artikel 10

1. Die Bestimmungen dieses Übereinkommens können unter Berücksichtigung der innerstaatlichen Verhältnisse erforderlichenfalls schrittweise durchgeführt werden, mit der Maßgabe, daß die Durchführungsmaßnahmen, die getroffen werden, in jedem Fall für alle in Artikel 1 Absatz 1 genannten Arbeitnehmer gelten.

2. Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert, hat in seinem ersten Bericht, den es gemäß Artikel 22 der Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation über die Durchführung des Übereinkommens vorzulegen hat, anzugeben, ob und in bezug auf welche Bestimmungen es von der in Absatz 1 dieses Artikels gebotenen Möglichkeit Gebrauch zu machen beabsichtigt, und in den folgenden Berichten mitzuteilen, in welchem Umfang diesen Bestimmungen entsprochen wurde oder entsprochen werden soll.



Artikel 11

Die Verbände der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer sind berechtigt, in einer den innerstaatlichen Verhältnissen und Gepflogenheiten entsprechenden Weise an der Ausarbeitung und Anwendung der Maßnahmen zur Durchführung der Bestimmungen dieses Übereinkommens mitzuwirken.



Artikel 12

Die förmlichen Ratifikationen dieses Übereinkommens sind dem Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes zur Eintragung mitzuteilen.



Artikel 13

1. Dieses Übereinkommen bindet nur diejenigen Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation, deren Ratifikation durch den Generaldirektor eingetragen ist.

2. Es tritt in Kraft zwölf Monate nachdem die Ratifikationen zweier Mitglieder durch den Generaldirektor eingetragen worden sind.

3. In der Folge tritt dieses Übereinkommen für jedes Mitglied zwölf Monate nach der Eintragung seiner Ratifikation in Kraft.



Artikel 14

1. Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert hat, kann es nach Ablauf von zehn Jahren, gerechnet von dem Tag, an dem es zum erstenmal in Kraft getreten ist, durch Anzeige an den Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes kündigen. Die Kündigung wird von diesem eingetragen. Ihre Wirkung tritt erst ein Jahr nach der Eintragung ein.

2. Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert hat und innerhalb eines Jahres nach Ablauf des im vorigen Absatz genannten Zeitraumes von zehn Jahren von dem in diesem Artikel vorgesehenen Kündigungsrecht keinen Gebrauch macht, bleibt für einen weiteren Zeitraum von zehn Jahren gebunden. In der Folge kann es dieses Übereinkommen jeweils nach Ablauf eines Zeitraumes von zehn Jahren nach Maßgabe dieses Artikels kündigen.



Artikel 15

1. Der Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes gibt allen Mitgliedern der Internationalen Arbeitsorganisation Kenntnis von der Eintragung aller Ratifikationen und Kündigungen, die ihm von den Mitgliedern der Organisation mitgeteilt werden.

2. Der Generaldirektor wird die Mitglieder der Organisation, wenn er ihnen von der Eintragung der zweiten Ratifikation, die ihm mitgeteilt wird, Kenntnis gibt, auf den Zeitpunkt aufmerksam machen, in dem dieses Übereinkommen in Kraft tritt.



Artikel 16

Der Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes übermittelt dem Generalsekretär der Vereinten Nationen zwecks Eintragung nach Artikel 102 der Charta der Vereinten Nationen vollständige Auskünfte über alle von ihm nach Maßgabe der vorausgehenden Artikel eingetragenen Ratifikationen und Kündigungen.



Artikel 17

Der Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes hat, sooft er es für nötig erachtet, der Allgemeinen Konferenz einen Bericht über die Durchführung dieses Übereinkommens zu erstatten und zu prüfen, ob die Frage seiner gänzlichen oder teilweisen Abänderung auf die Tagesordnung der Konferenz gesetzt werden soll.



Artikel 18

1. Nimmt die Konferenz ein neues Übereinkommen an, welches das vorliegende Übereinkommen ganz oder teilweise abändert, und sieht das neue Übereinkommen nichts anderes vor, so gelten folgende Bestimmungen:

a) Die Ratifikation des neugefaßten Übereinkommens durch ein Mitglied schließt ohne weiteres die sofortige Kündigung des vorliegenden Übereinkommens in sich ohne Rücksicht auf Artikel 14, vorausgesetzt, daß das neugefaßte Übereinkommen in Kraft getreten ist.

b) Vom Zeitpunkt des Inkrafttretens des neugefaßten Übereinkommens an kann das vorliegende Übereinkommen von den Mitgliedern nicht mehr ratifiziert werden.

2. Indessen bleibt das vorliegende Übereinkommen nach Form und Inhalt jedenfalls in Kraft für die Mitglieder, die dieses, aber nicht das neugefaßte Übereinkommen ratifiziert haben.



Artikel 19

Der französische und der englische Wortlaut dieses Übereinkommens sind in gleicher Weise maßgebend.