INTERNATIONALE ARBEITSORGANISATION

Übereinkommen 85

Übereinkommen aber die Arbeitsaufsicht in den außerhalb des Mutterlandes gelegenen Gebieten, 1947

Dieses Übereinkommen ist am 26. Juli 1955 in Kraft getreten.
Ort:Genf 
Tagung:30 

Die Allgemeine Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation,

die vom Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes nach Genf einberufen wurde und am 19. Juni 1947 zu ihrer dreißigsten Tagung zusammengetreten ist,

hat beschlossen, verschiedene Anträge anzunehmen betreffend die Arbeitsaufsicht in den außerhalb des Mutterlandes gelegenen Gebieten, eine Frage, die zum dritten Gegenstand ihrer Tagesordnung gehört, und

dabei bestimmt, daß diese Anträge die Form eines internationalen Übereinkommens erhalten sollen.

Die Konferenz nimmt heute, am 11. Juli 1947, das folgende Übereinkommen an, das als Übereinkommen über die Arbeitsaufsicht (außerhalb des Mutterlandes gelegene Gebiete), 1947, bezeichnet wird.



Artikel 1

In den außerhalb des Mutterlandes gelegenen Gebieten sind Dienststellen für die Arbeitsaufsicht nach Artikel 2 bis 5 dieses Übereinkommens zu unterhalten.



Artikel 2

Das Personal dieser Dienststellen hat aus zweckentsprechend ausgebildeten Aufsichtsbeamten zu bestehen.



Artikel 3

Den Arbeitnehmern und ihren Vertretern ist der freie Verkehr mit den Aufsichtsbeamten auf jede Weise zu erleichtern.



Artikel 4

1. Die von der zuständigen Stelle bestellten und mit den erforderlichen Ausweisen versehenen Aufsichtsbeamten haben die Arbeitsbedingungen in kurzen Zeitabständen zu überprüfen.

2. Zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben sind den Aufsichtsbeamten die folgenden gesetzlichen Befugnisse zu übertragen:

a) jederzeit bei Tag und bei Nacht jeden unterstellten Betrieb frei und unangemeldet zu betreten und zu besichtigen, wenn sie mit gutem Grund annehmen können, daß dort unter dem Schutze des Gesetzes stehende Personen beschäftigt sind,

b) bei Tag alle Räumlichkeiten zu betreten, von denen sie mit gutem Grund annehmen können, daß sie der Aufsicht unterstehen,

c) alle ihnen notwendig erscheinenden Prüfungen, Feststellungen oder Erhebungen vorzunehmen, um sich von der strengen Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften zu überzeugen und insbesondere

i) den Arbeitgeber oder das Personal des Betriebes allein oder in Gegenwart von Zeugen über alle die Durchführung der gesetzlichen Vorschriften betreffenden Angelegenheiten zu befragen oder sich um Auskunft an alle anderen Personen zu wenden, deren Zeugnis sie für notwendig erachten,

ii) die Vorlage aller durch die Gesetzgebung über die Arbeitsbedingungen vorgeschriebenen Bücher, Verzeichnisse oder sonstigen Unterlagen zur Nachprüfung ihrer Übereinstimmung mit den gesetzlichen Vorschriften zu verlangen und Abschriften dieser Unterlagen oder Auszüge aus ihnen anzufertigen,

iii) das Anschlagen der gesetzlich vorgeschriebenen Bekanntmachungen anzuordnen,

iv) Proben der verwendeten oder gehandhabten Stoffe und Substanzen zum Zwecke von Analysen zu entnehmen und mit sich zu nehmen, wobei jedoch der Arbeitgeber oder sein Vertreter von der Entnahme oder Mitnahme von Stoffen oder Substanzen für diesen Zweck zu verständigen ist.

3. Bei der Vornahme einer Besichtigung hat der Aufsichtsbeamte dem Arbeitgeber oder dessen Vertreter von seiner Gegenwart Kenntnis zu geben, es sei denn, daß eine solche Verständigung seiner Ansicht nach die Wirksamkeit der Kontrolle beeinträchtigen könnte.



Artikel 5

Vorbehaltlich der durch die Gesetzgebung allenfalls vorgesehenen Ausnahmen gelten für die Aufsichtsbeamten folgende Vorschriften:

a) Sie dürfen an den ihrer Aufsicht unterstellten Betrieben weder unmittelbar noch mittelbar beteiligt sein.

b) Sie müssen unter Androhung geeigneter Strafmaßnahmen oder disziplinarischer Ahndung verpflichtet sein, selbst nach Ausscheiden aus dem Dienst, irgendwelche Fabrikations- oder Geschäftsgeheimnisse oder Arbeitsverfahren, die bei Ausübung ihrer Befugnisse zu ihrer Kenntnis kommen, nicht preiszugeben.

c) Sie haben die Quelle jeder Beschwerde über einen bestehenden Mangel oder über eine Verletzung der gesetzlichen Vorschriften als unbedingt vertraulich zu behandeln und dürfen weder dem Arbeitgeber noch dessen Vertreter andeuten, daß eine Besichtigung durch eine Beschwerde veranlaßt worden ist.



Artikel 6

1. Für die in Artikel 35 der Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation in der Fassung der Abänderungskunde von 1946 bezeichneten Gebiete, mit Ausnahme der Gebiete nach Absatz 4 und 5 des genannten Artikels in seiner neuen Fassung, hat jedes Mitglied der Organisation, das dieses Übereinkommen ratifiziert, dem Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes mit seiner Ratifikation oder so bald wie möglich nach der Ratifikation eine Erklärung zu übermitteln, welche die Gebiete bekanntgibt,

a) für die es die Verpflichtung zur unveränderten Durchführung der Bestimmungen des Übereinkommens übernimmt,

b) für die es die Verpflichtung zur Durchführung der Bestimmungen des Übereinkommens mit Abweichungen übernimmt, unter Angabe der Einzelheiten dieser Abweichungen,

c) in denen das Übereinkommen nicht durchgeführt werden kann, und in diesem Fall die Gründe dafür,

d) für die es sich die Entscheidung vorbehält.

2. Die Verpflichtungen nach Absatz 1 a) und b) dieses Artikels gelten als Bestandteil der Ratifikation und haben die Wirkung einer solchen.

3. Jedes Mitglied kann die in der ursprünglichen Erklärung nach Absatz 1 b), c) und d) dieses Artikels mitgeteilten Vorbehalte jederzeit durch eine spätere Erklärung ganz oder teilweise zurückziehen.

4. Jedes Mitglied kann dem Generaldirektor zu jedem Zeitpunkt, in dem das Übereinkommen nach Absatz 12 gekündigt werden kann, eine Erklärung übermitteln, durch die der Inhalt jeder früheren Erklärung in sonstiger Weise abgeändert und die in dem betreffenden Zeitpunkt in bestimmten Gebieten bestehende Lage angegeben wird.



Artikel 7

1. Fällt der Gegenstand dieses Übereinkommens unter die Selbstregierungsbefugnisse eines außerhalb den Mutterlandes gelegenen Gebietes, so kann das für die internationalen Beziehungen dieses Gebietes verantwortliche Mitglied im Benehmen mit dessen Regierung dem Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes eine Erklärung übermitteln, durch die es die Verpflichtungen aus diesem Übereinkommen im Namen des betreffenden Gebietes übernimmt.

2. Eine Erklärung betreffend die Übernahme der Verpflichtungen aus diesem Übereinkommen kann dem Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes übermittelt werden

a) von zwei oder mehr Mitgliedern der Organisation für ein ihnen gemeinsam unterstelltes Gebiet,

b) von jeder nach der Charta der Vereinten Nationen oder auf Grund einer anderen Bestimmung für die Verwaltung eines Gebietes verantwortlichen internationalen Behörde, und zwar für das betreffende Gebiet.

3. In den dem Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes nach den vorstehenden Absätzen dieses Artikels übermittelten Erklärungen ist anzugeben, ob das Übereinkommen in dem betreffenden Gebiet mit oder ohne Abweichungen durchgeführt wird; teilt die Erklärung mit, daß die Durchführung des Übereinkommens mit Abweichungen erfolgt, so sind die Einzelheiten dieser Abweichungen anzugeben.

4. Das beteiligte Mitglied, die beteiligten Mitglieder oder die beteiligte internationale Behörde können jederzeit durch eine spätere Erklärung auf das Recht der Inanspruchnahme jeder in einer früheren Erklärung mitgeteilten Abweichung ganz oder teilweise verzichten.

5. Das beteiligte Mitglied, die beteiligten Mitglieder oder die beteiligte internationale Behörde können dem Generaldirektor zu jedem Zeitpunkt, in dem dieses Übereinkommen nach Artikel 12 gekündigt werden kann, eine Erklärung übermitteln, durch die der Inhalt jeder früheren Erklärung in sonstiger Weise abgeändert und die in dem betreffenden Zeitpunkt bestehende Lage in bezug auf die Durchführung dieses Übereinkommens angegeben wird.



Artikel 8

In den Jahresberichten über die Durchführung dieses Übereinkommens ist für jedes Gebiet, für das eine Erklärung über Abweichungen von den Bestimmungen des Übereinkommens in Kraft steht, anzugeben, inwieweit Fortschritte verwirklicht worden sind, die den Verzicht auf das Recht, von den genannten Abweichungen Gebrauch zu machen, ermöglichen sollen.



Artikel 9

Wird dem Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes eine Erklärung betreffend die Übernahme der Verpflichtung zur Durchführung des Übereinkommens über die Arbeitsaufsicht, 1947, in einem Gebiet nach Artikel 30 des genannten Übereinkommens oder eine Erklärung betreffend die Übernahme der Verpflichtungen aus dem genannten Übereinkommen für ein Gebiet nach Artikel 31 des genannten Übereinkommens übermittelt, so erlischt die Gültigkeit des vorliegenden Übereinkommens für das betreffende Gebiet.



Artikel 10

Die förmlichen Ratifikationen dieses Übereinkommens sind dem Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes zur Eintragung mitzuteilen.



Artikel 11

1. Dieses Übereinkommen bindet nur diejenigen Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation, deren Ratifikation durch den Generaldirektor eingetragen ist.

2. Es tritt in Kraft zwölf Monate nachdem die Ratifikationen zweier Mitglieder durch den Generaldirektor eingetragen worden sind.

3. In der Folge tritt dieses Übereinkommen für jedes Mitglied zwölf Monate nach der Eintragung seiner Ratifikation in Kraft.



Artikel 12

1. Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert hat, kann es nach Ablauf von zehn Jahren, gerechnet von dem Tag, an dem es zum ersten Mal in Kraft getreten ist, durch Anzeige an den Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes kündigen. Die Kündigung wird von diesem eingetragen. Ihre Wirkung tritt erst ein Jahr nach der Eintragung ein.

2. Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert hat und innerhalb eines Jahres nach Ablauf des im vorigen Absatz genannten Zeitraumes von zehn Jahren von dem in diesem Artikel vorgesehenen Kündigungsrecht keinen Gebrauch macht, bleibt für einen weiteren Zeitraum von zehn Jahren gebunden. In der Folge kann es dieses Übereinkommen jeweils nach Ablauf eines Zeitraumes von zehn Jahren nach Maßgabe dieses Artikels kündigen.



Artikel 13

1. Der Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes gibt allen Mitgliedern der Internationalen Arbeitsorganisation Kenntnis von der Eintragung aller Ratifikationen, Erklärungen und Kündigungen, die ihm von den Mitgliedern der Organisation mitgeteilt werden.

2. Der Generaldirektor wird die Mitglieder der Organisation, wenn er ihnen von der Eintragung der zweiten Ratifikation, die ihm mitgeteilt wird, Kenntnis gibt, auf den Zeitpunkt aufmerksam machen, in dem dieses Übereinkommen in Kraft tritt.



Artikel 14

Der Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes übermittelt dem Generalsekretär der Vereinten Nationen zwecks Eintragung nach Artikel 102 der Charta der Vereinten Nationen vollständige Auskünfte über alle von ihm nach Maßgabe der vorausgehenden Artikel eingetragenen Ratifikationen, Erklärungen und Kündigungen.



Artikel 15

Der Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes hat, sooft er es für nötig erachtet, der Allgemeinen Konferenz einen Bericht über die Durchführung dieses Übereinkommens zu erstatten und zu prüfen, ob die Frage seiner gänzlichen oder teilweisen Abänderung auf die Tagesordnung der Konferenz gesetzt werden soll.



Artikel 16

1. Nimmt die Konferenz ein neues Übereinkommen an, welches das vorliegende Übereinkommen ganz oder teilweise abändert, und sieht das neue Übereinkommen nichts anderes vor, so gelten folgende Bestimmungen:

a) Die Ratifikation des neugefaßten Übereinkommens durch ein Mitglied schließt ohne weiteres die sofortige Kündigung des vorliegenden Übereinkommens in sich ohne Rücksicht auf Artikel 12, vorausgesetzt, daß das neugefaßte Übereinkommen in Kraft getreten ist.

b) Vom Zeitpunkt des Inkrafttretens des neugefaßten Übereinkommens an kann das vorliegende Übereinkommen von den Mitgliedern nicht mehr ratifiziert werden.

2. Indessen bleibt das vorliegende Übereinkommen nach Form und Inhalt jedenfalls in Kraft für die Mitglieder, die dieses, aber nicht das neugefaßte Übereinkommen ratifiziert haben.



Artikel 17

Der französische und der englische Wortlaut dieses Übereinkommens sind in gleicher Weise maßgebend.