INTERNATIONALE ARBEITSORGANISATION

Übereinkommen 55

Übereinkommen über die Verpflichtungen des Reeders bei Krankheit, Unfall oder Tod von Schiffsleuten, 1936

Dieses Übereinkommen ist am 29. Oktober 1939 in Kraft getreten.
Ort:Genf 
Tagung:21 

Die Allgemeine Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation,

die vom Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes nach Genf einberufen wurde und am 6. Oktober 1936 zu ihrer einundzwanzigsten Tagung zusammengetreten ist,

hat beschlossen, verschiedene Anträge anzunehmen betreffend die Verpflichtungen des Reeders bei Krankheit, Unfall oder Tod der Schiffsleute, eine Frage, die zum zweiten Gegenstand ihrer Tagesordnung gehört, und

dabei bestimmt, daß diese Anträge die Form eines internationalen Übereinkommens erhalten sollen.

Die Konferenz nimmt heute, am 24. Oktober 1936, das folgende Übereinkommen an, das als Übereinkommen über die Verpflichtungen des Reeders bei Krankheit oder Unfall der Schiffsleute, 1936, bezeichnet wird.



Artikel 1

1. Dieses Übereinkommen findet Anwendung auf alle Personen, die an Bord eines gewöhnlich der Seeschiffahrt dienenden Schiffes beschäftigt sind, sofern dieses in einem Gebiet, für das dieses Übereinkommen gilt, eingetragen und kein Kriegsschiff ist.

2. Jedes Mitglied der Internationalen Arbeitsorganisation kann jedoch in seiner innerstaatlichen Gesetzgebung die ihm etwa erforderlich erscheinenden Ausnahmen vorsehen für

a) Personen, die beschäftigt sind an Bord von

i) Schiffen der Behörden, wenn diese Schiffe nicht der Handelsschiffahrt dienen,

ii) Fahrzeugen der Küstenfischerei,

iii) Fahrzeugen mit einem Bruttoraumgehalt von weniger als 25 Tonnen,

iv) einfachen Holzfahrzeugen, wie z.B. „Dhows" und Dschunken,

b) Personen, die an Bord für Rechnung eines anderen Arbeitgebers als des Reeders beschäftigt sind,

c) Personen, die ausschließlich in Häfen mit Ausbesserungsarbeiten, dem Reinigen, dem Beladen oder dem Entladen von Schiffen beschäftigt sind,

d) Familienangehörige des Reeders,

e) Lotsen.



Artikel 2

1. Die Verpflichtungen des Reeders erstrecken sich auf folgende Wagnisse:

a) Krankheit oder Unfall in der Zeit zwischen dem im Heuervertrag festgesetzten Tage des Dienstantrittes und der Beendigung des Dienstverhältnisses,

b) Tod infolge einer solchen Krankheit oder eines solchen Unfalles.

2. Die innerstaatliche Gesetzgebung kann jedoch Ausnahmen vorsehen für

a) Unfälle außerhalb des Schiffsdienstes,

b) Unfälle oder Krankheiten, die der Kranke, Verletzte oder Verstorbene wissentlich, absichtlich oder grob fahrlässig verschuldet hat,

c) Krankheiten oder Gebrechen, die beim Abschluß des Heuervertrages absichtlich verheimlicht worden sind.

3. Die innerstaatliche Gesetzgebung kann vorsehen, daß die Verpflichtungen des Reeders bei einer Krankheit oder bei dem durch die Krankheit unmittelbar verursachten Tod nicht bestehen, wenn es die beschäftigte Person beim Abschluß des Heuervertrages abgelehnt hat, sich ärztlich untersuchen zu lassen.



Artikel 3

Die zu Lasten des Reeders gehende Fürsorge im Sinne dieses Übereinkommens umfaßt

a) ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arznei und Heilmitteln in ausreichender Beschaffenheit und Menge,

b) Verpflegung und Unterkunft.



Artikel 4

1. Die Fürsorge geht zu Lasten des Reeders bis zur Heilung des Kranken oder des Verletzten oder bis zur Feststellung des Dauerzustandes der Krankheit oder der Erwerbsunfähigkeit.

2. Die innerstaatliche Gesetzgebung kann jedoch vorsehen, daß die Fürsorge des Reeders auf einen Zeitraum beschränkt wird, der nicht weniger als sechzehn Wochen vom Tage des Unfalles oder des Krankheitsbeginnes an umfassen darf.

3. Wenn für Schiffsleute in dem Gebiet, in dem das Schiff eingetragen ist, eine Pflichtversicherung gegen Krankheit, eine Pflichtversicherung gegen Unfall oder eine Unfallhaftpflicht besteht, so kann die innerstaatliche Gesetzgebung außerdem vorsehen,

a) daß der Reeder von dem Zeitpunkt an, in dem der Kranke oder Verletzte auf Grund der Versicherung oder Unfallhaftpflicht Anspruch auf ärztliche Hilfe hat, nicht mehr leistungspflichtig ist,

b) daß der Reeder von dem Zeitpunkt an, den die Gesetzgebung für die Gewährung der ärztlichen Hilfe auf Grund der Versicherung oder Unfallhaftpflicht für die Bezugsberechtigten vorschreibt, nicht mehr leistungspflichtig ist, auch wenn der Kranke oder Verletzte nicht unter diese Regelung fällt, vorausgesetzt, daß er nicht auf Grund von Beschränkungen ausgenommen wurde, die besonders ausländische Arbeitnehmer oder Arbeitnehmer betreffen, die nicht in dem Gebiet ihren Wohnsitz haben, in dem das Schiff eingetragen ist.



Artikel 5

1. Hat die Krankheit oder der Unfall eine Erwerbsunfähigkeit zur Folge, so hat der Reeder

a) die volle Heuer zu zahlen, solange sich der Kranke oder der Verletzte an Bord befindet,

b) von dem Zeitpunkt der Ausschiffung bis zur Heilung oder bis zur Feststellung des Dauerzustandes der Krankheit oder der Erwerbsunfähigkeit nach Maßgabe der innerstaatlichen Gesetzgebung die volle oder einen Teil der Heuer zu zahlen, wenn der Kranke oder Verletzte für den Unterhalt von Familienangehörigen zu sorgen hat.

2. Die innerstaatliche Gesetzgebung kann jedoch die Verpflichtung des Reeders zur Zahlung der vollen oder eines Teiles der Heuer an eine ausgeschiffte Person auf einen Zeitraum beschränken, der nicht weniger als sechzehn Wochen vom Tage des Unfalles oder des Krankheitsbeginnes an umfassen darf.

3. Wenn für Schiffsleute in dem Gebiet, in dem das Schiff eingetragen ist, eine Pflichtversicherung gegen Krankheit, eine Pflichtversicherung gegen Unfall oder eine Unfallhaftpflicht besteht, so kann die innerstaatliche Gesetzgebung außerdem vorsehen,

a) daß der Reeder von dem Zeitpunkt an, in dem der Kranke oder Verletzte Anspruch auf Barleistungen auf Grund der Versicherung oder Unfallhaftpflicht hat, nicht mehr leistungspflichtig ist,

b) daß der Reeder von dem Zeitpunkt an, den die Gesetzgebung für die Gewährung der Barleistungen auf Grund der Versicherung oder Unfallhaftpflicht für die Bezugsberechtigten vorschreibt, nicht mehr leistungspflichtig ist, auch wenn der Kranke oder Verletzte nicht unter diese Regelung fällt, vorausgesetzt, daß er nicht auf Grund von Beschränkungen ausgenommen wurde, die besonders ausländische Arbeitnehmer oder Arbeitnehmer betreffen, die nicht in dem Gebiet ihren Wohnsitz haben, in dem das Schiff eingetragen ist.



Artikel 6

1. Der Reeder trägt die Kosten der Heimschaffung für jeden während der Reise wegen Krankheit oder Unfall ausgeschifften Kranken oder Verletzten.

2. Der Heimschaffungshafen hat zu sein

a) der Anheuerungshafen oder

b) der Ausreisehafen des Schiffes oder



c) ein Hafen des Heimatstaates des Kranken oder Verletzten oder des Staates, dem der Kranke oder Verletzte angehört, oder

d) ein anderer zwischen dem Betroffenen und dem Schiffsführer oder Reeder mit Genehmigung der zuständigen Stelle vereinbarter Hafen.

3. Die Kosten der Heimschaffung umfassen alle Ausgaben für Beförderung, Unterkunft und Verpflegung des Kranken oder Verletzten während der Reise sowie für seinen Unterhalt bis zu dem für seine Abreise festgesetzten Zeitpunkt.

4. Wenn der Kranke oder der Verletzte arbeitsfähig ist, kann der Reeder seiner Heimschaffungspflicht dadurch nachkommen, daß er ihm eine angemessene Beschäftigung an Bord eines Schiffes verschafft, das sich nach einem der in Absatz 2 dieses Artikels vorgesehenen Bestimmungshäfen begibt.



Artikel 7

1. Der Reeder trägt die Bestattungskosten im Todesfall an Bord oder an Land, wenn der Verstorbene im Zeitpunkt seines Todes Anspruch auf Fürsorge gehabt hätte, die zu Lasten des Reeders geht.

2. Die innerstaatliche Gesetzgebung kann die Rückerstattung der Kosten des Reeders durch einen Versicherungsträger vorsehen, wenn auf Grund der Sozialversicherung oder der Unfallhaftpflicht Sterbegeld gewährt wird.



Artikel 8

Die innerstaatliche Gesetzgebung hat vom Reeder oder seinem Vertreter zu fordern, daß sie Maßnahmen ergreifen, um die an Bord zurückgelassene Habe des von diesem Übereinkommen erfaßten Kranken, Verletzten oder Verstorbenen sicherzustellen.



Artikel 9

Die innerstaatliche Gesetzgebung hat Bestimmungen vorzusehen, um eine rasche und wenig kostspielige Beilegung von Streitigkeiten zu gewährleisten, zu denen die Verpflichtungen des Reeders nach diesem Übereinkommen Anlaß geben können.



Artikel 10

Der Reeder kann von den in den Artikeln 4, 6 und 7 dieses Übereinkommens vorgesehenen Verpflichtungen insoweit befreit werden, als sie vom Staat übernommen werden.



Artikel 11

Dieses Übereinkommen sowie die innerstaatliche Gesetzgebung über die nach diesem Übereinkommen zu gewährenden Leistungen sind so auszulegen und anzuwenden, daß allen Schiffsleuten ohne Unterschied der Staatsangehörigkeit, des Wohnsitzes oder der Rasse die Gleichbehandlung gewährleistet ist.



Artikel 12

Soweit kraft Gesetz, Entscheidung, Gewohnheit oder Vereinbarung zwischen Reedern und Schiffsleuten günstigere Bedingungen gelten, als in diesem Übereinkommen vorgesehen sind, werden diese durch die Bestimmungen dieses Übereinkommens nicht berührt.



Artikel 13

1. Für die in Artikel 35 der Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation genannten Gebiete hat jedes Mitglied der Organisation, das dieses Übereinkommen ratifiziert, der Ratifikation eine Erklärung beizufügen, die die Gebiete bekanntgibt,

a) in denen es die Bestimmungen dieses Übereinkommens unverändert durchzuführen sich verpflichtet,

b) in denen es die Bestimmungen dieses Übereinkommens mit Abänderungen durchzuführen sich verpflichtet, unter Angabe der Einzelheiten dieser Abänderungen,

c) in denen das Übereinkommen nicht durchgeführt werden kann, und in diesem Falle die Gründe dafür,

d) für die es sich die Entscheidung vorbehält.

2. Die Verpflichtungen nach Absatz 1 a) und b) dieses Artikels gelten als Bestandteil der Ratifikation und sind in gleicher Weise verbindlich.

3. Jedes Mitglied kann die Vorbehalte, die es in seiner früheren Erklärung nach Absatz 1 b), c) oder d) dieses Artikels gemacht hat, ganz oder teilweise zurückziehen.



Artikel 14

Die förmlichen Ratifikationen dieses Übereinkommens sind dem Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes zur Eintragung mitzuteilen.



Artikel 15

1. Dieses Übereinkommen bindet nur diejenigen Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation, deren Ratifikation durch den Generaldirektor eingetragen ist.

2. Es tritt in Kraft zwölf Monate nachdem die Ratifikationen zweier Mitglieder durch den Generaldirektor eingetragen worden sind.

3. In der Folge tritt dieses Übereinkommen für jedes andere Mitglied zwölf Monate nach der Eintragung seiner Ratifikation in Kraft.



Artikel 16

Sobald die Ratifikationen zweier Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation eingetragen sind, teilt der Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes dies sämtlichen Mitgliedern der Internationalen Arbeitsorganisation mit. Auch gibt er ihnen Kenntnis von der Eintragung der Ratifikationen, die ihm später von anderen Mitgliedern der Organisation mitgeteilt werden.



Artikel 17

1. Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert hat, kann es nach Ablauf von zehn Jahren, gerechnet von dem Tag, an dem es zum ersten Mal in Kraft getreten ist, durch Anzeige an den Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes kündigen. Die Kündigung wird von diesem eingetragen. Ihre Wirkung tritt erst ein Jahr nach der Eintragung ein.

2. Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert hat und innerhalb eines Jahres nach Ablauf des im vorigen Absatz genannten Zeitraumes von zehn Jahren von dem in diesem Artikel vorgesehenen Kündigungsrecht keinen Gebrauch macht, bleibt für einen weiteren Zeitraum von zehn Jahren gebunden. In der Folge kann es dieses Übereinkommen jeweils nach Ablauf eines Zeitraumes von zehn Jahren nach Maßgabe dieses Artikels kündigen.



Artikel 18

Der Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes hat, sooft er es für nötig erachtet, der Allgemeinen Konferenz einen Bericht über die Durchführung dieses Übereinkommens zu erstatten und zu prüfen, ob die Frage seiner gänzlichen oder teilweisen Abänderung auf die Tagesordnung der Konferenz gesetzt werden soll.



Artikel 19

1. Nimmt die Allgemeine Konferenz ein neues Übereinkommen an, welches das vorliegende Übereinkommen ganz oder teilweise abändert, und sieht das neue Übereinkommen nichts anderes vor, so gelten folgende Bestimmungen:

a) Die Ratifikation des neugefaßten Übereinkommens durch ein Mitglied schließt ohne weiteres die sofortige Kündigung des vorliegenden Übereinkommens in sich ohne Rücksicht auf Artikel 17, vorausgesetzt, daß das neugefaßte Übereinkommen in Kraft getreten ist.

b) Vom Zeitpunkt des Inkrafttretens des neugefaßten Übereinkommens an kann das vorliegende Übereinkommen von den Mitgliedern nicht mehr ratifiziert werden.

2. Indessen bleibt das vorliegende Übereinkommen nach Form und Inhalt jedenfalls in Kraft für die Mitglieder, die dieses, aber nicht das neugefaßte Übereinkommen ratifiziert haben.



Artikel 20

Der französische und der englische Wortlaut dieses Übereinkommens sind in gleicher Weise maßgebend.