INTERNATIONALE ARBEITSORGANISATION

Übereinkommen 26

Übereinkommen über die Einrichtung von Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen, 1928

Dieses Übereinkommen ist am 14. Juni 1930 in Kraft getreten.
Ort:Genf 
Tagung:11 

Die Allgemeine Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation,

die vom Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes nach Genf einberufen wurde und am 30. Mai 1928 zu ihrer elften Tagung zusammengetreten ist,

hat beschlossen, verschiedene Anträge anzunehmen betreffend Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen, eine Frage, die den ersten Gegenstand ihrer Tagesordnung bildet, und

dabei bestimmt, daß diese Anträge die Form eines internationalen Übereinkommens erhalten sollen.

Die Konferenz nimmt heute, am 16. Juni 1928, das folgende Übereinkommen an, das als Übereinkommen über Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen, 1928, bezeichnet wird, zwecks Ratifikation durch die Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation nach den Bestimmungen der Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation:



Artikel 1

1. Jedes Mitglied der Internationalen Arbeitsorganisation, das dieses Übereinkommen ratifiziert, verpflichtet sich, Verfahren einzuführen oder beizubehalten, die es gestatten, Mindestlöhne für die Arbeitnehmer in gewissen Gewerben oder Teilen von Gewerben (insbesondere in der Heimarbeit) festzusetzen, in denen keine wirksamen Einrichtungen zur Festsetzung der Löhne, sei es durch Gesamtarbeitsvertrag oder auf anderem Wege, bestehen und in denen die Löhne außergewöhnlich niedrig sind.

2. Im Sinne dieses Übereinkommens bedeutet das Wort „Gewerbe" die weiterverarbeitenden Gewerbe und den Handel.



Artikel 2



Jedem Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert, steht es frei, nach Anhörung der Berufsverbände der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, falls solche Verbände für das betreffende Gewerbe oder einen Teil des Gewerbes bestehen, selbst zu entscheiden, auf welche Gewerbe oder Teile von Gewerben und insbesondere auf welche Zweige der Heimarbeit oder auf welche ihrer Teile die in Artikel 1 vorgesehenen Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen angewendet werden sollen.



Artikel 3

1. Jedem Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert, steht es frei, die Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen und deren Anwendungsweise selbst zu bestimmen.

2. Hierbei ist folgendes zu beachten:

(1) Bevor die Verfahren auf ein Gewerbe oder einen Teil eines Gewerbes angewendet werden, sind die Vertreter der beteiligten Arbeitgeber und Arbeitnehmer -- darunter sind auch die Vertreter der etwa bestehenden Berufsverbände zu verstehen -- wie auch nach Ermessen der zuständigen Stelle andere durch ihren Beruf oder ihren Wirkungskreis dazu besonders geeignete Personen anzuhören.

(2) Die beteiligten Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben an der Durchführung der Verfahren teilzunehmen, und zwar in der Form und in dem Maße, wie die innerstaatliche Gesetzgebung dies vorsieht, jedenfalls aber in gleicher Zahl und auf dem Fuße der Gleichberechtigung.

(3) Die festgesetzten Mindestlöhne haben verbindliche Kraft für die beteiligten Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Sie dürfen von ihnen nicht durch Einzelabmachungen und, ohne allgemeine oder besondere Ermächtigung durch die zuständige Stelle, auch nicht durch Gesamtarbeitsverträge herabgesetzt werden.



Artikel 4

1. Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert, hat die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, um im Wege der Aufsicht und mit Hilfe von Zwangsmaßnahmen sicherzustellen, daß die beteiligten Arbeitgeber und Arbeitnehmer Kenntnis von den geltenden Mindestlöhnen erhalten und daß die wirklich gezahlten Löhne nicht niedriger sind als die Mindestlöhne, wo solche gelten.

2. Jedem Arbeitnehmer, für den die Mindestlohnsätze gelten, der aber einen geringeren Lohn erhalten hat, ist das Recht zu wahren, auf gerichtlichem oder einem anderen gesetzlichen Wege die Zahlung des ihm gebührenden Lohnrestes innerhalb einer von der innerstaatlichen Gesetzgebung zu bestimmenden Frist zu erwirken.



Artikel 5

Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert, verpflichtet sich, dem Internationalen Arbeitsamt alljährlich eine allgemeine Darstellung zu übermitteln, die ein Verzeichnis der Gewerbe oder Teile von Gewerben enthält, in denen die Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen Anwendung gefunden haben, und die über die Formen der Anwendung sowie über die Ergebnisse der Verfahren Auskunft gibt. Diese Darstellung soll zusammenfassende Angaben über die ungefähren Zahlen der von der Regelung erfaßten Arbeitnehmer, über die festgesetzten Mindestlohnsätze und gegebenenfalls über die sonstigen für die Mindestlohnregelung besonders wichtigen Maßnahmen enthalten.



Artikel 6

Die förmlichen Ratifikationen dieses Übereinkommens sind nach den Bestimmungen der Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation dem Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes zur Eintragung mitzuteilen.



Artikel 7

1. Dieses Übereinkommen bindet nur diejenigen Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation, deren Ratifikation beim Internationalen Arbeitsamt eingetragen ist.

2. Es tritt in Kraft zwölf Monate nachdem die Ratifikationen zweier Mitglieder durch den Generaldirektor eingetragen worden sind.

3. In der Folge tritt dieses Übereinkommen für jedes andere Mitglied zwölf Monate nach der Eintragung seiner Ratifikation in Kraft.



Artikel 8

Sobald die Ratifikationen zweier Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation beim Internationalen Arbeitsamt eingetragen sind, teilt der Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes dies sämtlichen Mitgliedern der Internationalen Arbeitsorganisation mit. Auch gibt er ihnen Kenntnis von der Eintragung der Ratifikationen, die ihm später von anderen Mitgliedern der Organisation mitgeteilt werden.



Artikel 9

1. Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert hat, kann es nach Ablauf von zehn Jahren, gerechnet von dem Tag, an dem es zum ersten Mal in Kraft getreten ist, durch Anzeige an den Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes kündigen. Die Kündigung wird von diesem eingetragen. Ihre Wirkung tritt erst ein Jahr nach der Eintragung beim Internationalen Arbeitsamt ein. 2. Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert hat und innerhalb eines Jahres nach Ablauf des im vorigen Absatz genannten Zeitraumes von zehn Jahren von dem in diesem Artikel vorgesehenen Kündigungsrecht keinen Gebrauch macht, bleibt für einen weiteren Zeitraum von fünf Jahren gebunden. In der Folge kann es dieses Übereinkommen jeweils nach Ablauf eines Zeitraumes von fünf Jahren nach Maßgabe dieses Artikels kündigen.



Artikel 10

Der Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes hat, sooft er es für nötig erachtet, der Allgemeinen Konferenz einen Bericht über die Durchführung dieses Übereinkommens zu erstatten und zu prüfen, ob die Frage seiner gänzlichen oder teilweisen Abänderung auf die Tagesordnung der Konferenz gesetzt werden soll.



Artikel 11

Der französische und der englische Wortlaut dieses Übereinkommens sind in gleicher Weise maßgebend.