INTERNATIONALE ARBEITSORGANISATION

Übereinkommen 22

Übereinkommen über den Heuervertrag der Schiffsleute, 1926

Dieses Übereinkommen ist am 4. April 1928 in Kraft getreten.
Ort:Genf 
Tagung:9 

Die Allgemeine Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation,

die vom Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes nach Genf einberufen wurde und am 7. Juni 1926 zu ihrer neunten Tagung zusammengetreten ist,

hat beschlossen, verschiedene Anträge anzunehmen betreffend den Heuervertrag der Schiffsleute, eine Frage, die zum ersten Gegenstand ihrer Tagesordnung gehört, und

dabei bestimmt, daß diese Anträge die Form eines internationalen Übereinkommens erhalten sollen.

Die Konferenz nimmt heute, am 24. Juni 1926, das folgende Übereinkommen an, das als Übereinkommen über den Heuervertrag der Schiffsleute, 1926, bezeichnet wird, zwecks Ratifikation durch die Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation nach den Bestimmungen der Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation:



Artikel 1

1. Dieses Übereinkommen findet Anwendung auf alle im Gebiet eines Mitgliedes, welches das Übereinkommen ratifiziert hat, registrierten Seeschiffe und ihre Reeder, Schiffsführer und Schiffsleute.

2. Es findet keine Anwendung

a) auf Kriegsschiffe,

b) auf Staatsschiffe, die nicht der Handelsschiffahrt dienen,

c) auf Schiffe innerstaatlicher Küstenfahrt,

d) auf Lustjachten,

e) auf Fahrzeuge der sogenannten „Indian country craft",

f) auf Fischereifahrzeuge,

g) auf Schiffe mit einem Bruttoraumgehalt von weniger als 100 Tonnen oder 300 Kubikmetern und, sofern es sich um Schiffe im sogenannten „home trade" handelt, mit einem Raumgehalt, der unter der von der innerstaatlichen Gesetzgebung zur besonderen Regelung dieses Schifffahrtszweiges festgesetzten und zur Zeit der Annahme dieses Übereinkommens geltenden Grenze bleibt.



Artikel 2

Im Sinne dieses Übereinkommens sind die nachstehenden Ausdrücke wie folgt zu verstehen:

a) Der Ausdruck „Schiff" umfaßt Schiffe und Boote aller Art, die regelmäßig zur Seeschiffahrt verwendet werden, gleichviel ob sie in öffentlichem oder privatem Eigentum stehen;

b) der Ausdruck „Schiffsmann" umfaßt jede Person, die an Bord beschäftigt oder angestellt und in die Musterrolle eingetragen ist, ohne Rücksicht auf ihre Stellung; ausgenommen sind Schiffsführer, Lotsen, Schulschiffszöglinge und Schiffslehrlinge, sofern letztere durch einen besonderen Lehrvertrag verpflichtet sind, ferner die Besatzung der Kriegsflotte und die sonstigen Personen, die sich im ständigen Staatsdienst befinden;

c) der Ausdruck „Schiffsführer" umfaßt jede Person, die Führer des Schiffes und für das Schiff verantwortlich ist, mit Ausnahme der Lotsen;

d) der Ausdruck „Schiffe im home trade" findet Anwendung auf Schiffe, die den Handelsverkehr zwischen den Häfen eines Landes und eines Nachbarlandes in den von der innerstaatlichen Gesetzgebung gezogenen geographischen Grenzen vermitteln.



Artikel 3

1. Der Heuervertrag wird vom Reeder oder seinem Vertreter und vom Schiffsmann unterzeichnet. Dem Schiffsmann und seinem Beistand, falls er einen solchen hat, ist, soweit dies billigerweise gefordert werden kann, Gelegenheit zu geben, den Heuervertrag vor der Unterzeichnung zu prüfen.

2. Die innerstaatliche Gesetzgebung hat die Umstände, unter denen der Schiffsmann den Vertrag unterzeichnet, so zu bestimmen, daß eine angemessene Überwachung durch die zuständige Stelle gewährleistet ist.

3. Die vorstehenden Bestimmungen über die Unterzeichnung des Vertrages gelten als erfüllt, wenn die zuständige Stelle bestätigt, daß der Vertrag ihr schriftlich vorgelegt und sowohl vom Reeder oder seinem Vertreter als auch vom Schiffsmann gutgeheißen worden ist.

4. Die innerstaatliche Gesetzgebung soll durch geeignete Vorschriften dafür Sorge tragen, daß der Schiffsmann den Vertrag verstanden hat.

5. Der Vertrag darf keine der innerstaatlichen Gesetzgebung oder diesem Übereinkommen zuwiderlaufende Bestimmung enthalten.

6. Die innerstaatliche Gesetzgebung hat alle sonstigen Förmlichkeiten und Sicherheiten für den Abschluß des Vertrages vorzusehen, die zum Schutze der Interessen des Reeders und des Schiffsmannes für notwendig erachtet werden.



Artikel 4

1. Durch geeignete Maßnahmen ist in Übereinstimmung mit der innerstaatlichen Gesetzgebung die Gewähr dafür zu schaffen, daß der Heuervertrag keine Bestimmung enthält, nach der die Parteien im voraus übereinkommen, von den ordentlichen Regeln der Zuständigkeit für die Rechtsprechung in Sachen des Heuervertrages abzuweichen.

2. Diese Bestimmung darf nicht dahin ausgelegt werden, daß sie die Anrufung eines Schiedsgerichtes ausschließt.



Artikel 5

1. Jedem Schiffsmann ist ein Schriftstück auszuhändigen, das seinen Dienst an Bord des Schiffes bescheinigt. Die innerstaatliche Gesetzgebung hat die Form dieses Schriftstückes, die darin vorzunehmenden Eintragungen und die Art, wie diese Eintragungen zu erfolgen haben, zu bestimmen.

2. Das Schriftstück darf kein Urteil über die Arbeitsleistung des Schiffsmannes und keine Angabe über seine Heuer enthalten.



Artikel 6

1. Der Heuervertrag kann auf bestimmte Zeit, für eine Reise oder, wenn es die innerstaatliche Gesetzgebung zuläßt, auf unbestimmte Zeit abgeschlossen werden.

2. Der Heuervertrag soll die Rechte und Pflichten beider Parteien deutlich angeben.

3. Er soll in allen Fällen Angaben enthalten über

(1) Namen und Vornamen des Schiffsmannes, sein Geburtsdatum oder sein Alter und den Geburtsort,

(2) Ort und Tag des Vertragsschlusses,

(3) die Bezeichnung des Schiffes oder der Schiffe, für die sich der Schiffsmann zum Dienste verpflichtet,

(4) die Besatzungsstärke, soweit die innerstaatliche Gesetzgebung diese Angabe vorschreibt,

(5) die Reise oder die Reisen, die unternommen werden sollen, wenn sie im Augenblick der Anheuerung angegeben werden können,

(6) der Dienst, für den der Schiffsmann verwendet werden soll,

(7) wenn möglich, Ort und Tag, an denen sich der Schiffsmann zum Dienstantritt an Bord einzufinden hat,

(8) die dem Schiffsmann zustehende Beköstigung, es sei denn, daß die innerstaatliche Gesetzgebung eine andere Regelung vorsieht,

(9) den Betrag der Heuer,

(10) die Beendigung des Vertrages, und zwar,

a) wenn der Vertrag auf bestimmte Zeit geschlossen ist, den Tag des Ablaufes des Vertrages,

b) wenn der Vertrag für eine Reise geschlossen ist, den Bestimmungshafen und die Angabe der Frist nach Ankunft, nach deren Ablauf der Schiffsmann ausscheiden darf,

c) wenn der Vertrag auf unbestimmte Zeit geschlossen ist, die Voraussetzungen, die jede Partei zur Kündigung berechtigen, sowie die Kündigungsfrist; die Frist für die Kündigung des Reeders darf nicht kürzer sein als die für die Kündigung des Schiffsmannes,

(11) den jährlichen Urlaub, der dem Schiffsmann nach einem bei der gleichen Reederei zurückgelegten Dienstjahr unter Fortgewährung der Heuer zusteht, soweit die innerstaatliche Gesetzgebung einen solchen Urlaub vorsieht,

(12) alle sonstigen Einzelheiten, welche die innerstaatliche Gesetzgebung etwa vorschreibt.



Artikel 7

Wenn die innerstaatliche Gesetzgebung vorschreibt, daß an Bord eine Musterrolle zu führen ist, so hat sie zu bestimmen, daß der Heuervertrag in die Musterrolle einzutragen oder ihr beizufügen ist.



Artikel 8

Um dem Schiffsmann zu ermöglichen, sich über Art und Umfang seiner Rechte und Pflichten zu vergewissern, hat die innerstaatliche Gesetzgebung die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit an Bord die Bedingungen der Beschäftigung genau eingesehen werden können. Dies kann durch Anschlag der Heuervertragsbestimmungen an einer der Mannschaft leicht zugänglichen Stelle oder durch jede andere geeignete Maßnahme geschehen.



Artikel 9

1. Der auf unbestimmte Zeit geschlossene Heuervertrag endet durch Kündigung seitens einer der Parteien in einem Hafen, den das Schiff zum Laden oder Löschen anläuft, vorausgesetzt, daß die vereinbarte Kündigungsfrist, die mindestens vierundzwanzig Stunden betragen muß, eingehalten wird.

2. Die Kündigung hat schriftlich zu erfolgen; die innerstaatliche Gesetzgebung hat die Kündigung so zu regeln, daß jeder nachträgliche Streit darüber zwischen den Parteien möglichst vermieden wird.

3. Die innerstaatliche Gesetzgebung hat die Ausnahmefälle zu bestimmen, in denen selbst eine fristgerecht erfolgte Kündigung den Vertrag nicht auflöst.



Artikel 10

Der für eine Reise, auf bestimmte oder auf unbestimmte Zeit geschlossene Heuervertrag wird rechtsgültig beendigt

a) durch Einverständnis der Parteien,

b) durch den Tod des Schiffsmannes,

c) durch Verlust oder völlige Seeuntüchtigkeit des Schiffes,

d) aus sonstigen Gründen, welche die innerstaatliche Gesetzgebung oder dieses Übereinkommen vorsehen.



Artikel 11

Die innerstaatliche Gesetzgebung hat die Voraussetzungen zu bestimmen, unter denen der Reeder oder der Schiffsführer den Schiffsmann fristlos entlassen kann.



Artikel 12

Die innerstaatliche Gesetzgebung hat auch die Voraussetzungen zu bestimmen, unter denen der Schiffsmann seine sofortige Entlassung verlangen kann.



Artikel 13

1. Weist der Schiffsmann dem Reeder oder dessen Vertreter nach, daß er die Führung eines Schiffes, eine Stelle als Schiffsoffizier des Deck- oder Maschinendienstes oder sonst eine höhere Stellung als die, die er innehat, erhalten kann oder daß infolge wichtiger Umstände, die seit seiner Anheuerung eingetreten sind, sein Ausscheiden für ihn von wesentlicher Bedeutung ist, so kann er seine Entlassung verlangen, sofern er, ohne besondere Kosten für den Reeder, einen geeigneten und dem Reeder oder dessen Vertreter genehmen Ersatzmann stellt.

2. In diesem Falle hat der Schiffsmann Anspruch auf eine der Dauer seiner Dienstleistung entsprechende Heuer.



Artikel 14

1. Ohne Rücksicht auf den Grund der Beendigung oder Auflösung des Vertrages ist in dem dem Schiffsmann nach Artikel 5 auszuhändigenden Schriftstück und in der Musterrolle zu vermerken, daß der Schiffsmann aller Verpflichtungen ledig ist; dieser Vermerk ist auf Ersuchen einer der beiden Parteien von der zuständigen Stelle zu beglaubigen.

2. Außer dem in Artikel 5 erwähnten Schriftstück hat der Schiffsmann jederzeit Anspruch auf ein besonderes, vom Schiffsführer auszustellendes Zeugnis über seine Leistungen oder wenigstens darüber, ob er seinen vertraglichen Pflichten voll nachgekommen ist.



Artikel 15

Die innerstaatliche Gesetzgebung hat durch geeignete Maßnahmen die Beachtung der Bestimmungen dieses Übereinkommens zu gewährleisten.



Artikel 16

Die förmlichen Ratifikationen dieses Übereinkommens sind nach den Bestimmungen der Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation dem Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes zur Eintragung mitzuteilen.



Artikel 17

1. Dieses Übereinkommen tritt in Kraft, sobald die Ratifikationen zweier Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation durch den Generaldirektor eingetragen worden sind.

2. Es bindet nur diejenigen Mitglieder, deren Ratifikation beim Internationalen Arbeitsamt eingetragen ist.

3. In der Folge tritt dieses Übereinkommen für jedes andere Mitglied mit dem Tag in Kraft, an dem seine Ratifikation beim Internationalen Arbeitsamt eingetragen worden ist.



Artikel 18

Sobald die Ratifikationen zweier Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation beim Internationalen Arbeitsamt eingetragen sind, teilt der Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes dies sämtlichen Mitgliedern der Internationalen Arbeitsorganisation mit. Auch gibt er ihnen Kenntnis von der Eintragung der Ratifikationen, die ihm später von anderen Mitgliedern der Organisation mitgeteilt werden.



Artikel 19

Vorbehaltlich der Bestimmungen des Artikels 17 verpflichtet sich jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert, die Bestimmungen der Artikel 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14 und 15 spätestens am 1. Januar 1928 in Geltung zu setzen und die zu ihrer Durchführung nötigen Maßnahmen zu treffen.



Artikel 20

Jedes Mitglied der Internationalen Arbeitsorganisation, das dieses Übereinkommen ratifiziert, verpflichtet sich, es in seinen Kolonien, Besitzungen und Protektoraten nach den Bestimmungen des Artikels 35 der Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation anzuwenden.



Artikel 21

Jedes Mitglied, daß dieses Übereinkommen ratifiziert hat, kann es nach Ablauf von zehn Jahren, gerechnet von dem Tag, an dem es zum ersten Mal in Kraft getreten ist, durch Anzeige an den Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes kündigen. Die Kündigung wird von diesem eingetragen. Ihre Wirkung tritt erst ein Jahr nach der Eintragung beim Internationalen Arbeitsamt ein.



Artikel 22

Der Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes hat, sooft er es für nötig erachtet, der Allgemeinen Konferenz einen Bericht über die Durchführung dieses Übereinkommens zu erstatten und zu prüfen, ob die Frage seiner gänzlichen oder teilweisen Abänderung auf die Tagesordnung der Konferenz gesetzt werden soll.



Artikel 23

Der französische und der englische Wortlaut dieses Übereinkommens sind in gleicher Weise maßgebend.